Mit dem „Wiegenwald der Zirben“ verhält es sich so wie mit einem echten Schatz: Er liegt – gut versteckt – abseits markierter Wege und wird gehütet wie ein kostbares Geheimnis. Für seine Entdeckung sollte man Zeit, aber auch ein wenig Ausdauer und „Schmalz in den Waden“ mitbringen. Doch keine Angst! „Die Wanderung ist für alle zu schaffen“, bestätigt Stefan Altenberger, der als Ranger im Nationalpark Hohe Tauern Sommer wie Winter naturinteressierte Besucher auf geführte Wanderungen mitnimmt. Der Uttendorfer kennt die Gegend rund um die Weißsee Gletscherwelt wie seine Westentasche. Startpunkt der Wanderung ist der Enzingerboden im Talschluss des Stubachtals, 17 Kilometer vom Ortszentrum entfernt. Dieses Hochplateau auf knapp 1.500 Metern Seehöhe wird vom großen Stubachkraftwerk dominiert. Während man heute hier vor allem Urlaub in zwei Hotels und privaten Appartements macht, gab es Mitte des 20. Jahrhunderts am Enzingerboden mehrere Wohnhäuser, Lagerräume, eine Gastwirtschaft und sogar eine einklassige Schule für die Kinder der Kraftwerksarbeiter. Bis heute hat sich der Enzingerboden diesen spröden, harschen Industriecharme vergangener Tage – inmitten einer prachtvollen Bergwelt – bewahrt.
Keine Beschilderung, doch der Ranger kennt den Weg
Für Besucher des Wiegenwaldes geht es vom Enzingerboden zuerst knackig bergauf: Aufs erste müssen rund 200 Höhenmeter überwunden werden, nach gut einer halben Stunde weist ein Schild darauf hin, dass man die Außenzone des Nationalparks Hohe Tauern erreicht hat. Stefan Altenberger führt ruhig und umsichtig, Schritt für Schritt geht es in die Höhe, Pausen werden zum Trinken und Erklären genutzt, etwa von Farnen, Moosen und Flechten, die sich wie Urwesen über Steine und Bäume ziehen. Bald lichtet sich der Fichtenwald und der Himmel wird sichtbar. Aus der Dunkelheit des Waldes tritt man in eine romantische Moorlandschaft mit schwarzen Seen, Zirben und Lärchen. Eine völlig neue Vegetation tut sich auf, das Hochmoor erinnert an Kanada oder Schweden. Fast schon meint man, einen Elch auf die Lichtung treten zu sehen. Doch natürlich ist da keiner: Viel wahrscheinlicher wäre ein kapitaler Hirsch. Immerhin verdankt einer der Seen – die „Hirschlacke“ – dem hier beheimateten Rotwild seinen Namen.
Spektakuläre Baumriesen: Hier wachsen bis zu 1.000 Jahre alte Zirben
Schritt für Schritt, in vollkommener Ruhe und ehrfürchtig folgen wir dem schmalen Pfad: Auf den tiefschwarzen Moorseen hinterlassen Wasserläufer kleine Kreise, Schwarzbeeren am Wegesrand verführen zum Naschen. Nun wird der Wald erneut dichter und zugleich romantischer, mystischer und geheimnisvoller: Wir sind im Reich der „Königin der Alpen“ angekommen. Denn so wird die Zirbe auch genannt und der Wiegenwald gilt als einer der größten Zirbenbestände des Nationalparks Hohe Tauern. Der Wald mutet märchenhaft an: Fliegenpilze sprießen aus dem sattgrünen Moos, dichte Baumbärte wallen im feuchten Nebel. „Wir haben hier einige der ältesten Zirben der Alpen, einige von ihnen sind an die tausend Jahre alt“, erläutert Stefan Altenberger. Dass der Wald unangetastet geblieben ist, obwohl Holz über die Jahrhunderte eine wichtige Wirtschaftsressource für die Salzgewinnung im Fürsterzbistum Salzburg war, ist den mächtigen Landesfürsten selbst zu verdanken: Sie erkannten die Schönheit des Waldes und bestanden schon vor hunderten von Jahren auf dessen Schutz.
Die alten Zirben lehren uns Beständigkeit und Überlebenswillen
Mächtig sind die uralten Zirben, rau und von grober Struktur ihre Rinden. Unglaublich, wie lange diese Baumriesen hier schon stehen: Welch‘ harte Winter, trockene Sommer, Schneestürme und Gewitter sie erlebt haben. An manchen Zirben sind Blitzeinschläge zu erkennen. Dennoch lebt ein Teil von ihnen weiter. Sie strahlen eine ungeheure Kraft und fast magische Energie aus: Tief verwurzelt scheinen sie sich gegen alle äußeren Einflüsse zur Wehr zu setzen. So sehr hängen sie am Leben. Fast schon wie eine Metapher schwebt ihr Überlebenswille über uns. Verstehen wir ihre Botschaft? Geht es genau darum? Den äußeren Widerständen im Leben zu trotzen, stark verwurzelt zu bleiben und am Leben festzuhalten?
Von giftigen Wolfsflechten und winterlicher Vorratshaltung
Immer wieder lässt uns der Nationalpark-Ranger Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Und diese wandern wie von alleine durch den Wiegenwald: Tiefe Wolken türmen sich über der Hohen Fürleg, ein pechschwarzer Alpensalamander quert unseren Weg und verharrt dann in vollkommener Stille. Die Tiere treten so selten auf, dass sie unter strengem Schutz stehen, doch ein Foto ist erlaubt. Wir lernen, dass es der Tannenhäher mit seinem heiseren Krächzen ist, der dafür sorgt, dass sich der Wiegenwald immer wieder verjüngt: Jahr für Jahr legt sich der Vogel einen Vorrat an Zirbennüssen an, um gut über den Winter zu kommen. Vergisst er das ein oder andere Versteck, geht an dieser Stelle eine neue, junge Zirbe auf. Stefan Altenberger zeigt uns, wie man die Nüsschen aus den Zirbenzapfen bricht: Bis zu 70 dieser Samen transportiert der schwarze Vogel in seiner Kehltasche. Und noch eine Besonderheit entdecken wir mit ihm: Die fast neon-gelb leuchtende Wolfsflechte, die früher dazu genutzt wurde, um Fuchs- oder Wolfsköder zu vergiften. „Eine beliebte Methode, um Raubtiere zur Strecke zu bringen“, erklärt uns Stefan Altenberger.
Der Wiegenwald bewahrt sich seine Geheimnisse
Und so wandern wir weiter und weiter nach oben: Nach dem Hochmoor liegt nun auch der Zirbenwald hinter uns und auf rund 1.800 Metern Seehöhe sind wir im Reich der Latschenkiefer angelangt. Mittendrin versteckt: die wunderschön gelegene Stierbichlhütte. Seit Jahrzehnten ist sie in Privatbesitz und Unterkunft für Weidmänner, die den Wiegenwald als Jagdrevier nutzen.
Von hier aus eröffnet sich nun ein gigantischer Blick auf den Grünsee, die Mittelstation der Weißsee Gletscherbahn und auf die Weißsee Gletscherwelt, wo sich mit der Rudolfshütte das einzige 3-Sterne-Hotel der Alpen befindet, das ausschließlich zu Fuß oder per Bergbahn erreichbar ist. Im Winter wird hier oben Skigefahren, im Sommer wird gewandert.
Wir aber verlassen auf einsamen Pfaden allmählich den Wiegenwald. Zurück ins Tal geht es mit der Bergbahn: Von der Gondel aus werfen wir einen letzten Blick zurück. Für ein paar Stunden hat dieses Naturidyll seine Geheimnisse offenbart. Nun scheinen die Pforten in sein Reich wieder verschlossen.