Hans Naglmayr hat seine ganz eigenen Ansichten vom Leben. Was er mag? Die Natur, die Musik, die Bäume, Apfelstrudel. Was er nicht mag? Liegen gelassene Taschentücher am Wegesrand, Smartphone-Junkies und „Hallo“-Sager. „Griaß di, hoaßt es bei uns“, korrigiert er ein paar Wanderer. „Der ‚Hallo‘ ist gestorben und den ‚Ciao‘ und den ‚Tschüß‘ haben sie gleich daneben beerdigt“. Ja, er ist ein kantiger Typ, aber auch ein Netter. Raue Schale, weicher Kern, so in etwa. Am liebsten ist der Hans in der Natur: Allein in den Wintermonaten schließen sich bis zu tausend Menschen ihm und seinen Führungen an: Gehen mit ihm auf Skisafari oder zum Schneeschuhwandern in den Nationalpark Hohe Tauern, der im hintersten Gasteinertal beginnt.
Von Baumbärten und Katzensilber
Eines seiner liebsten Reviere aber ist der Zirbenweg auf rund 2.000 Meter Seehöhe am Graukogel. Und dort sind wir mit ihm unterwegs: Mit den zwei langen, fast schon nostalgisch anmutenden Sesselliften haben wir eine Strecke von über 2,4 Kilometer bergauf zurückgelegt. Erst sind es Fichten, weiter oben dann Zirben, die uns mit wallenden Baumbärten an den Ästen begrüßen „Ein Zeichen für die hervorragende Luftqualität“, erklärt uns der Nationalpark-Ranger und gibt das Aufbruchszeichen: Wir machen uns auf zum Zirbenweg, der in einer große Schleife Richtung Süden und zurück zur Graukogelhütte führt. Wer ihn schnell geht, ist in dreißig Minuten zurück am Ausgangspunkt. Mit Hans Naglmayr kann eine Wanderung durchaus drei bis vier Stunden dauern, manche Gäste sind ihn schon zwanzig Mal mit ihm gegangen: So viel gibt es zu sehen und zu besprechen. Etwa warum der Weg unter unseren Schuhen so glitzert: Es ist Katzensilber, das an die bedeutende Rolle des Gasteinertals im Goldbergbau erinnert.
Die perfekte Familienwanderung am Zirbenweg
Es ist eine leichte und einfache Wanderung, aber auch eine ganz besondere: Unter uns liegen die alte Kurstadt Bad Gastein und ihre eleganten Hotels im Stile der Belle Époque – umringt von Bäumen. Der Orte wurde einst mitten in den Hang und damit in den Wald gebaut: Noch heute ist man manchmal überrascht, dass man zwischen den Hotels plötzlich einer Baumgruppe gegenübersteht: Sie erinnert an den einstigen Wald.
Auf dem Graukogel auf über 1.900 Meter Seehöhe sind Wanderer am Zirbenweg umringt von den Gipfeln des Stubnerkogels, des Feuersangs und des Scharecks. Wir hören Kinder lachen und Jugendliche kichern: Irgendjemand versteckt sich im Zirbennest. Hier krabbeln welche ins Zirbenbett und dort wird die Aussichtsplattform erklommen. Auch die Keltenliegen und Schaukeln sind belegt. Diese mit Naturmaterialen erbauten Erlebnisstationen säumen den Zirbenweg am Graukogel, der damit zum echten Familienausflugsziel wird. Wir aber haben heute den Blick auf die Hauptdarstellerin des Weges gerichtet: Auf die Zirbe selbst. Sie ist ein widerstandsfähiger Baum, verträgt bis zu minus vierzig Grad Kälte und muss erst einmal vierzig Jahre alt werden, um die ersten Früchte zu tragen. Hier oben am Graukogel wachsen Zirben, die das schier unglaubliche Alter von bis zu tausend Jahren erreicht haben.
Der Tannenhäher, der „Gärtner des Zirbenwaldes“
„Die Zirbe lebt mit dem Tannenhäher in einer Symbiose“, erklärt uns der Nationalpark-Ranger. „Ihre Zirbennüsschen sind zu schwer, um vom Wind davon getragen zu werden, sodass sie zur Vermehrung auf den Vogel angewiesen ist. Der Tannenhäher ernährt sich von den Zirbensamen und versteckt sie über den Winter gerne auf kleinen Anhöhen wie etwa Felsblöcken und Steinen: Die sind aufgrund des Windes im Winter vielfach schneefrei. Und so findet der Vogel auch seine Vorräte wieder. Vergisst er dann doch einmal ein Versteck, geht an dieser Stelle eine kleine Zirbe auf.“ Und tatsächlich stellen wir plötzlich fest, dass die meisten Zirbenbäumchen auf Anhöhen wachsen.
Dann lässt Hans Naglmayr den Blick in Richtung Himmel schweifen und stößt einen krächzenden Ruf aus. Wir blicken überrascht und erleben dann ein erstaunliches Spektakel: Noch ein Ruf und schon gleitet ein Tannenhäher über die Baumwipfel. Der „Gärtner des Zirbenwaldes“ zieht seine Runden hoch über unseren Köpfen und grüßt freundlich zurück.
Die Kraft der Bäume, das Wunder Zirbe
Hans Naglmayr, der auch Wanderführer, Aufsichtsjäger und bei der Berg- und Naturwacht ist, eröffnet uns einen neuen Blick auf die Welt um uns: So etwa erklärt er uns, wie wichtig Totholz ist, das in der kurzen Vegetationszone auf 1.900 Meter Seehöhe oft über hundert Jahre lang nicht verfault und verwittert: Es gibt hier Bäume, die schon vor Jahrzehnten abgestorben sind. „Aber diese Totholzbäume zählen zu den intensivsten und kraftvollsten Lebensräumen, die wir kennen“, betont Hans, der seit zwanzig Jahren Nationalpark-Ranger ist und selbst immer wieder zum Energietanken auf den Graukogel kommt: Er sucht die Nähe zu den Bäumen und findet bei ihnen Ruhe und Zeit zum Innehalten. Immerhin ist die Wirkung der Zirbe mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Wer etwa in einem Zirbenzimmer schläft, hat einen um bis zu 3.000 Schläge niedrigeren Herzschlag. Eine mit Zirbenholz getäfelte Stube verbreitet noch nach hundert Jahren ihren einzigartigen Duft. Und Brot in einer Zirbendose wird nicht schimmeln. Die Zirbe ist ein Baum voller Wunder, die Natur ein Ort des Spürens und Begreifens. Ob das alle verstehen, fragen wir den Hans. Der zuckt die Schultern und sagt: „Wenn nur ein einziger dabei ist, der meine Botschaft versteht, hab ich schon gewonnen.“