Schritt für Schritt geht es tiefer in den Wald. Über mir schließt sich das Dach aus Blättern, Ästen und Nadeln und hüllt mich in sanft-grünes Licht. Eine kleine Familie Fliegenpilze – Vater, Mutter, Kind – sprießt possierlich aus dem Moos, irgendwo in der Ferne knackt ein Zweig. Ein scheues Reh oder ein übermutiger Gamsbock vielleicht. Ich halte inne und schaue mich um: Obwohl mir alles fremd ist, überkommt mich ein Gefühl von Vertrautheit. Zu meiner Rechten sprudelt ein Gebirgsbach, Farne wiegen sich in einem mir unbekannten Takt. Im Gegenlicht schweben Spinnweben zwischen den uralten Stämmen und verleihen dem Wald einen Hauch von Mystik und Magie. Wäre es nicht so kitschig, wäre der Vergleich mit Rotkäppchens Märchenwald passend.
Unterwegs auf uralten Pfaden
Der Weg führt vom Ort Hüttschlag, der bereits zum Nationalpark Hohe Tauern gehört, hinauf zum Naturjuwel Schodersee: eine uralte Viehtriebgasse und ein ebenso alter Wallfahrtsweg nach Maria Luschari im Friaul. Tausende von Menschen sind diesen Weg vor mir gegangen. Haben gesehen, was ich sehe. Haben gehört, was ich höre. Unzählige Male ist diesen Weg ein Mann gegangen, der mehr sieht und hört als die meisten von uns. Walter Mooslechner hat mich mitgenommen in den Wald. Um mir zu zeigen, worin dessen Faszination liegt. Und warum er davon niemals genug bekommen kann. Auch nicht nach vielen Jahrzehnten. Walter Mooslechner war Förster und der Wald sein Arbeitsplatz. Auch seit er im Ruhestand ist, kehrt er täglich dorthin zurück.
Vor einer Stunde saßen wir noch in der Küche seines neu gebauten Holzhauses in Großarl. Ich blätterte Walter Mooslechners selbst verfasste Bücher und seine private Fotosammlung durch: Bäume über Bäume, Holz überall. „Jeder Tag, den ich nicht im Wald verbringe, ist für mich ein unerfüllter Tag“, erklärte mir Walter Mooslechner. „Als ich noch Förster war, stand die Wirtschaftlichkeit des Waldes im Vordergrund. Jetzt erst merke ich, wie viele Geheimnisse der Wald birgt. Die Natur ist wie ein Kreuzworträtsel, das es zu lösen gilt. Ich lerne jeden Tag dazu.“ Wenn Walter Mooslechner von Bäumen erzählt, ist es gerade so, als spräche er über seine besten Freunde und liebsten Bekannten.
Die Nähe zur Natur verschaffe ihm ein erhebendes Gefühl von Freiheit, betont er. Und ich spüre förmlich, dass er sich dieses Gefühl für jeden Menschen wünscht. Doch er weiß auch: „In unserer hochtechnisierten Welt geht das natürliche Empfinden der Menschen verloren. Man muss sich schon etwas Mühe geben und sich Zeit nehmen, um mit der Natur in Verbindung zu treten. Wer jedoch zu sich finden möchte, der kann das in erster Linie über die Natur.“
Den Wald mit den Augen des Försters sehen
Und so lässt er mich teilhaben an seiner Freude, lässt mich den Wald durch seine Augen betrachten und mit seinen Ohren hören. „Hörst du die Symphonie des Gebirgsbaches? Jeder Bach hat seine ganz eigene Melodie“, macht er mich aufmerksam. Walter Mooslechner zeigt mir einen „geringelten“ Baum – hier hat ein Specht mit seinem spitzen Schnabel Löcher in die Rinde gehackt, um Larven zu picken. Nicht weit davon entfernt entdecken wir den Frühstückstisch eines Eichhörnchens: Diese jausnen am liebsten etwas erhöht, etwa auf bemoosten Steinen. Buschige Baumbarte hängen von den Ästen. „Sie sind ein Zeichen für die gute Luft hier im Tal. Man kann sie trocknen und räuchern“, erklärt mit der ehemalige Förster und drückt mir dabei ein paar gepflückte Schwarzbeeren in die Hand. Sie schmecken erdig, waldig und himmlisch zugleich.
Seine Augen leuchten und er strahlt die unbändige Entdeckerlust eines kleinen Jungen aus. Es ist, als sähe er alles zum ersten Mal. Und mir wird bewusst: Was dieser Mann hat, ist den meisten Menschen schon lange abhanden gekommen. Es ist eine ungebrochene Neugierde auf die Welt. Die Lust, das Kleine zu entdecken. Die Sensibilität, die Schönheit der einfachen Dinge zu sehen. Der Wunsch, das große Ganze zu verstehen. Und das Gefühl, sich selbst als Teil davon wahrzunehmen.
Nach einiger Zeit lassen wir uns auf einem großen Stein nieder. „Das Wichtigste ist, dass die Menschen wieder ins Spüren kommen. Bäume ganz bewusst zu berühren, tut uns gut“, höre ich Walter Mooslechner sagen. „Jeder Baum hat eine Seele. Er ist ein Wunder der Natur und mit uns verwandt. Genauso wie Wasser.“ Ich betrachte ihn von der Seite: Will mir ein erfahrener Förster und Jäger wirklich erzählen, dass ich Bäume umarmen soll? Ja, das tut er. Und nein, er macht keine Witze. Denn er kennt die Wirkung, die die Natur auf ihn hat. Und er möchte die Menschen dazu ermutigen, all ihre Sinne für deren Schönheit zu öffnen, um Ähnliches zu spüren. Wie wir das tun, ist egal. Hauptsache wir tun es.