Bevor es für die Pferde im Raurisertal alljährlich im Sommer hinauf auf die Alm geht, muss zunächst die Rangfolge der Hengste geklärt werden. Wir waren bei den eindrucksvollen Kämpfen dabei.
Ein wertvoller Deckhengst hat es (scheinbar) nicht leicht. Nachdem er für die Deckung von durchschnittlich 30 Stuten gesorgt hat, steht ihm zur Erholung zwar ein wunderschöner rund 100tägiger Sommerurlaub ohne Fortpflanzungsstress auf den saftigen Almwiesen der „Schneeweide“ im hinteren Raurisertal zu, doch bevor es mit rund 135 Pferden in den verdienten Almsommer geht, muss er zuerst noch mit den anderen Hengsten zur Bestimmung der Rangordnung in den Ring steigen.
Beim traditionellen Rauriser Noriker-Hengstauftrieb kann man dieses beeindruckende Schauspiel beim Alpengasthof Bodenhaus alljährlich am letzten Juniwochenende hautnah miterleben. Doch diese für die Zuschauer spektakuläre Bestimmung des Leithengstes ist eine wichtige Voraussetzung, um einen entspannten und kampflosen Almsommer für die Pferde sicherzustellen. Denn hat sich die Rangordnung unter den Hengsten nach wilden Machtdemonstrationen und Kämpfen einmal gebildet, ordnen sie sich friedlich unter.
Wer gibt das Kommando an?
Ein Raunen geht durch die Menge der 5.000 Zuschauer, als sich das Tor in die mit massiven Holzstämmen umzäunte Koppel auf der Grieswiesalm öffnet und ein kraftvoller Noriker-Hengst von seinem Züchter hereingeführt wird. Ein wahres Muskelpaket mit über 800 Kilo ist dieser dunkelbraune Hengst mit der auf den Schenkel gemalten Nummer 1. Er trabt friedlich neben seinem Besitzer her, doch sobald sich das Tor erneut zur Präsentation des zweiten Hengstes öffnet, fängt er schon nervös zu tänzeln an. So füllt sich die Koppel langsam mit rund zehn Deckhengsten, und die Stimmung in und rund um die Arena wird mit jedem Hengst noch angespannter und erwartungsvoller.
Auf das Kommando von Hans Wieser, Geschäftsführer der Pferdealmgenossenschaft Grieswies, lassen die Züchter ihre bereits sehr kampflustigen Hengste vom Führungsseil und verlassen schnell die Koppel. Nur wenige Augenblicke später bäumen sich die ersten Hengste schon auf, und lautes Gewieher erfüllt das Gelände während plötzlich an allen Ecken und Enden der Koppel gekämpft wird. Meine Gedanken müssen mir ins Gesicht geschrieben sein, denn ein älterer Zuschauer erklärt mir lächelnd: „Keine Angst. Ein Kampf unter Hengsten sieht zwar brutal aus, läuft aber immer fair ab, denn sie wissen wann es genug ist und belassen es meist bei einer Machtdemonstration. Alle diese Hengste sind in Herden aufgewachsen und kennen die Regeln der Rangordnung.“
Machtdemonstration auf der Koppel
Über eine Stunde lang bleiben die Hengste zusammen in der Koppel bis alle Machtkämpfe durch Treten, Rempeln, Beißen und einschüchterndes Aufsteigen ausgetragen sind und die Hierarchie hergestellt ist. Plötzlich stehen sie erschöpft und friedlich beisammen und grasen. Auf die Frage meines Nachbarn, wer denn meiner Meinung nach jetzt der Leithengst ist, tippe ich auf den getigerten Norika mit der Nummer 4. Er hat am öftesten provoziert und so auch die meisten Kämpfe ausgetragen. Da lacht der ältere Herr, Mitglied des Pferdezuchtverbandes: „Ja das könnte man denken. Aber ich tippe auf die Nummer 8 – das ist der Hengst der kaum gekämpft hat.“
Und schon verkündet Hans Wieser über Mikrofon den Leithengst des dieses Almsommers. Mein Pferdeversteher lächelt wissend: „Nicht die angriffslustigsten, kämpferischsten und lautesten setzen sich durch. Der Sieger hat stille Stärke, Dominanz und machtvolle Ausstrahlungskraft bewiesen und sich fast kampflos als führender Leithengst durchgesetzt.“
„Schön eigentlich…“ denke ich, als die Hengste jetzt ganz ruhig aus der Koppel geführt werden und sich auf ihren Weg in den wohlverdienten Almsommer am Fuße des 3105 m hohen Sonnblicks machen.