Wild, wilder, Wildnisgebiet… Der Nationalpark Hohe Tauern umfasst 1.856 km² unberührte Natur, sagenhafte 300 Dreitausender, 342 Gletscher, 279 Bäche, 26 bedeutende Wasserfälle und 551 Bergseen. Bei 35 % der Nationalparkfläche handelt es sich um Almen und Kulturlandschaft und es sind rund 20.000 Tierarten, 3.500 Pflanzenarten und etwa 4.000 Pilze im Schutzgebiet enthalten. Und inmitten der Hochgebirgslandschaft des in den 1980er Jahren gegründeten Nationalparks, der in verschiedene Zonen eingeteilt ist, findet sich seit 2019 noch ein wahrer Schatz – das Wildnisgebiet der Sulzbachtäler. Nationalparkdirektor Wolfgang Urban erzählt im Interview über die unterschiedlichen Lebensräume.
Herr Direktor Urban, der Nationalpark Hohe Tauern hat viele Facetten. Prinzipiell ist er ja in unterschiedliche Zonen eingeteilt. Nach welchen Gesichtspunkten entstanden diese Zonen ursprünglich?
Bei den meisten Großschutzgebieten weltweit basiert das Management auf Basis einer Einteilung des Gebietes in Zonen mit unterschiedlicher naturräumlicher Ausstattung und unterschiedlichen Managementzonen: Eine ökologisch sehr hochwertige und streng geschützte Kernzone wird von einer Art Pufferzone – der Außenzone – umgeben, in der dann verschiedene Einflüsse von außerhalb des Nationalparks, aber auch in umgekehrter Richtung ‚abgepuffert‘ werden. Auch im Nationalpark Hohe Tauern ergab sich eine sinnvolle Zonierung in eine Kern- und eine Außenzone. Im Salzburger Nationalparkgesetz wird die Kernzone den weitgehend ursprünglichen Naturlandschaften zugeschrieben. Es gilt dort der Prozessschutz, also das Zulassen der natürlichen Dynamik als Maßnahme und Ziel. Die Außenzone soll nach diesen landesgesetzlichen Vorgaben die bewirtschaftete Kulturlandschaft, in den Hohen Tauern also die Almen, betreffen. Wobei hier als Ziel die Erhaltung der Biodiversität durch die Forcierung einer nachhaltigen Bewirtschaftung im Vordergrund steht.
Der 1.856 km² große Nationalpark erstreckt sich über drei Bundesländer und teilt sich in eine 1.213 km² Kernzone und ein 643 km² große Außenzone
Das ist die naturschutzfachliche Theorie, welche in den letzten Jahren sowohl im novellierten Nationalparkgesetz 2014, als auch im Managementplan 2016-2024 geschärft wurde. In den Anfangsjahren des Nationalparks Hohe Tauern – es war der erste Nationalpark Österreichs – fehlte die Erfahrung sowohl aus rechtlicher als auch aus Managementsicht. So war die heute noch gültige Zonierung aus dem Jahre 1984 nicht nur von dieser klaren Differenzierung geprägt. Generell war es schwierig und eine enorme Verhandlungs- und Überzeugungsleistung dieses Großschutzgebiet überhaupt ins Leben zu rufen. Da waren etliche Kompromisse und Aushandlungsprozesse, politische Zugeständnisse, etc. wesentlich. Und so sind wir im Nationalparkmanagement heute überzeugt, dass der Nationalpark, insbesondere nach der Internationalen Anerkennung durch die IUCN (International Union for the Conservation of Nature), gereift und reif ist, diese ursprüngliche Zonierung dem Stand des Wissens und der Erfahrungen, sowie den international üblichen Managementerfordernissen anzupassen.
Zusätzlich zu diesen beiden Zonen findet man im Nationalpark Hohe Tauern seit 2019 noch eine Besonderheit – das Wildnisgebiet Sulzbachtäler. Wo gliedert sich dieses Gebiet ein?
Ein Wildnisgebiet ist in der weltweiten Kategorisierung von Schutzgebieten durch die IUCN eine eigene Kategorie (Wildnis = IUCN I, Nationalpark = IUCN II). Ein Wildnisgebiet zeichnet noch ursprünglichere Ökosysteme aus, als in einer Kernzone eines Nationalparks zu finden sind, welche oftmals zumindest historisch oder extensiv einer Nutzung unterliegen. In den USA, in denen man schon 1967 mit dem ,Wilderness Act‘ des US Kongresses begonnen hat, solche Gebiete noch strenger als Nationalparks zu entwickeln, gibt es die meisten ausgewiesenen Wildnisgebiete. In Europa hat man sich erst in diesem Jahrhundert damit näher beschäftigt und nur mehr wenig Potential, hauptsächlich in Nord- und Osteuropa, solch großflächigen Wildnisgebiete für die kommenden Generationen zu erhalten. Zumeist findet man sie innerhalb schon bestehender Nationalparks und auch hier relativ selten. Die Lage eines Wildnisgebietes mitten in einem Nationalpark hat den großen Vorteil, dass erstens die dort schon relativ streng geschützte Kernzone als ökologische Abpufferung wirken kann und zweitens bereits ein Schutzgebietsmanagement etabliert ist. Nach vielen Machbarkeitsstudien und internationalen Audits wurde das 6.728 ha große Wildnisgebiet Sulzbachtäler 2019 tatsächlich in die weltweite Kategorie I der IUCN eingestuft.
Finden sich im Wildnisgebiet spezielle Pflanzen oder Tiere, die man anderswo nicht findet? Oder was macht dieses Gebiet so besonders?
Es sind gar keine speziellen Pflanzen- oder Tierarten, die hier im Wildnisgebiet im Fokus stehen, sondern die natürliche Entwicklungsdynamik ganzer Ökosysteme. Die Sulzbachtäler waren lange Zeit sehr großflächig vergletschert und zu den mittelalterlichen Wärmeperioden aufgrund der schwierigen Erreichbarkeit kaum bewirtschaftet. Auch als 1850 dann der bis heute anhaltende Gletscherrückgang begann, folgten diesem nicht gleich die unterschiedlichsten Nutzungen. Lage, Eigentumsverhältnisse, etc. können das erklären. Somit konnte sich auf diesen fast 7.000 ha eine natürliche Entwicklung einstellen, die es nur mehr im weiten Norden in ähnlicher Form gibt, die alpinen Ökosysteme entwickeln sich nach dem Gletscherrückgang ab 1850 quasi von der ‚Stunde Null‘ wie nach der Eiszeit vor 20.000 Jahren vollkommen in natürlicher und unbeeinflusster Art und Weise, vom nackten Fels über die ersten Algen und Flechten bis zum subalpinen Zirbenwald. Eine primäre Wildnis, die kaum anderswo zu finden ist und mit irgendwelchen verwilderten Sekundärflächen wenig gemein hat. Diese Chance für die kommenden Generationen wurde in Salzburg erkannt und umgesetzt. Eine Referenzfläche natürlicher Dynamik, deren Wert mit jedem Jahrzehnt steigt, für die Wissenschaft, aber auch für die Gesellschaft, für das Naturerlebnis und den Naturbezug der Menschen.
Gibt es noch andere Besonderheiten im Nationalpark?
Ja, der Nationalpark ist schon alleine durch seine Größe prädestiniert, ein buntes Mosaik unterschiedlicher alpiner Landschaften und Ökosysteme zu bieten. Da sind die noch vergletscherten Hochlagen genauso eine Besonderheit, wie die vielen Wasserfälle, darunter die berühmten 380 m hohen Kaskaden der Krimmler Wasserfälle, unzählige Bergseen, der größte der Kratzenbergsee im Hollersbachtal, das „Tal der Geier“ (das Rauriser Krummltal), urtümliche Wälder wie der Rauriser Urwald oder der Wiegenwald im Uttendorfer Stubachtal und in jedem der 13 Salzburger Nationalparktäler eine bunte Vielfalt an Kulturlandschaft.
Wie kann ein Besucher des Nationalparks diese unterschiedlichen Zonen am besten erleben?
Schon eine einzige Wanderung von den leicht erreichbaren Nationalpark- bzw. Taleingängen über die Almen in der Außenzone zu den letzten Schutzhütten der alpinen Vereine in die Kernzone und dann einen leicht zu erreichenden, an der 3.000er Marke kratzenden, Gipfel. Das ist eine Reise durch die unterschiedlichen Klimazonen und alpinen Lebensräume wie von Mitteleuropa in die Arktis. So eine Reise und ähnliche geführte Wanderungen finden sich in unserem jährlichen Sommerprogramm ‚NaturErlebnis‘ und werden von unseren Rangern begleitet. Ranger kann man übrigens den ganzen Sommer über in allen Nationalparktälern antreffen. Unser Angebot ‚Meet a Ranger‘ verspricht, direkt an den interessantesten Plätzen näheres zu den aktuellen Gegebenheiten in der Natur zu erfahren. Egal, ob es der Blick durch das Spektiv des Rangers zu einem Adlerpaar bei der Jungenaufzucht ist, eine Steinbockbeobachtung oder auch die Erklärung imposanter Naturphänomene, wie die große Sattelkarrutschung im Obersulzbachtal. Spezielle Angebote führen aber auch auf nicht ausgewiesenen Pfaden in das Wildnisgebiet Sulzbachtäler – bis dorthin, wo aktuell der mächtige Talgletscher des Untersulzbachkeeses sein Gletschertor ausgebildet hat.
- Außenzone: Durch gezielte Förderung almwirtschaftlicher Maßnahmen wird versucht, das charakteristische Landschaftsbild zu erhalten.
- Kernzone: Strenger Schutz! Dreiviertel der Fläche des Nationalparks sind von wirtschaftlicher Nutzung ausgeschlossen.
- Wildnisgebiet: Sulzbachtäler – 6.728 ha Schutzgebiet der Kategoire Ib. Fläche im besonderen Schutz, die in ihrer Ursprünglichkeit ohne menschliche Einflüsse erhalten wird.