Seit Jahrtausenden prägen die Gletscher das Erscheinungsbild des Nationalparks Hohe Tauern. Am Fuße des Großvenedigers in der Wildkogel-Arena wandert man im Einzugsgebiet von neun Gletschern. Diese ewigen Eisflächen sorgen heute für Wasserreichtum im Obersulzbachtal und haben einst das Tal geformt.
Über den Ortsteil Sulzau in Neukirchen fahre ich hinein ins Obersulzbachtal. Mein Auto parke ich am Parkplatz Hopffeldboden. Ich bin gut ausgerüstet, denn die Wanderung zum Gletscherweg, der kurz nach der Postalm bei der Obersulzbachütte beginnt, führt ins alpine Gelände. Ich entscheide mich für die längere Aufstiegsvariante über den Venedigerweg. Dieser führt über eine imposante Seilbrücke auf die linke Seite des Obersulzbachs bis zur Berndlalm. Durch schattige Wälder steige ich auf und genieße die Kühle und Ruhe.
Rauschende Wasserfälle
Kurz vor der Berndlalm höre ich bereits das Rauschen zweier Naturdenkmäler des Tales. Der 80 m hohe Gamseck-Fall und der nahe gelegene Seebachfall – ein 300 Meter hoher Schleierfall. Fasziniert betrachte ich die unbändigen Wassermassen, die sich hier wild über steile Flanken ins enge Tal stürzen. An der Berndlalm treffe ich auf Wanderer, die eben vom Seebachsee herabgestiegen sind. Mit leuchtenden Augen erzählen sie von den sagenhaften Ausblicken auf den Großvenediger und die idyllische Szenerie mit den blühenden Almrosen an diesem stillen Bergsee. Gedanklich notiere ich mir, diese Wanderung über den Themenweg Seebachsee ebenfalls bald in Angriff zu nehmen. Heute jedoch setze ich meinen Weg zum Obersulzbach-Kees, dem größten Gletscher des Tales, fort. In den Alpen existieren mehr als 2.000 Gletscher mit einem Eisvolumen von rund 100 km², wobei man von diesen 2.000 Gletschern allein 342 im Nationalpark Hohe Tauern finden kann.
Eindrucksvoller Gletschersee
Es war auch das Obersulzbach-Kees, das einst mit seinen gewaltigen Eismassen dieses Tal formte. Im Jahr 1850 reichte die Gletscherzunge noch herunter bis zur Obersulzbachhütte, die nun in mein Blickfeld kommt. Vom Gletscher ist hier noch nichts zu sehen, denn heute liegt das Gletschertor aufgrund des Rückgangs der Eismassen weiter taleinwärts. „Türkische Zeltstadt“ heißt der Bereich vor dem Gletscher und hier, am Eisrand, hat sich ein eindrucksvoller See gebildet. Er gibt Zeugnis der Eisschmelze, und der Gletscherlehrweg informiert mich über die Entwicklung der Gletscher im Obersulzbachtal.
Begegnung im Steinbockrevier
Ein leises Poltern ist zu vernehmen und meine Augen suchen die umliegenden Flanken nach der Ursache des Geräusches ab. Ein mächtiger Steinbock steht weiter oben am Fels und blickt still zu mir herunter. Seine imposanten Sicheln sind fast einen Meter lang. Er zeigt keine Beunruhigung und scheint zu wissen, dass er im Fels weit geländegängiger ist, als wir Menschen. Eine ganze Weile stehen wir beide da und beobachten uns. Seit 1978 sind diese ehemals fast ausgerotteten Alpenbewohner im Obersulzbachtal wieder angesiedelt. Ein wenig äst der Steinbock noch am kargen Gras zwischen den Felsen, dann hat er das Interesse an mir verloren und verschwindet hinter einer Felsnase.
Gletscherlehrweg Obersulzbachtal
Ich wende mich wieder dem Gletscherweg zu, der an zwanzig Informationspunkten auf die Rückzugsstationen des Gletschers, markante Moränen und Gletscherschliffe sowie die Rückkehr der Pflanzenwelt hinweist. In der Broschüre über den Gletscherweg, die ich vor meiner Wanderung im Tourismusverband Neukirchen gekauft habe, sind die einzelnen Stationen detailliert beschrieben. Immer wieder sehe ich hinauf auf die Westflanke des Großvenedigers und denke an die mutigen Erstbesteiger, die vor 175 Jahren erstmals den Gipfel dieser „Weltalten Majestät“ erklommen haben. Vom Gletscherlehrweg aus ginge es weiter bis hinauf zur Kürsingerhütte, dem Ausgangspunkt für die Besteigung des Großvenedigers, doch mein Weg führt mich heute wieder zurück. Doch bald schon werde ich das gletscherreiche Obersulzbachtal weiter erwandern.
Foto © Wildkogel-Arena